Stefan Göbel

Enttäuschung über meinen Berufsstand

Mit großer Enttäuschung habe ich heute zur Kenntnis nehmen müssen, dass sieben von acht Richtern des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Auflösung des Bundestages als rechtmäßig beurteilt haben.

Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte im Bundestag den Antrag gestellt, ihm das Vertrauen auszusprechen. Dieser Antrag fand – gemäß seinem Wunsch – nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Schröder schlug daraufhin Bundespräsident Horst Köhler vor, den Bundestag aufzulösen. Köhler kam diesem Wunsch nach.

Köhler stützte die Auflösung des Bundestages, wie von Schröder vorgeschlagen, auf die Norm des Art. 68 GG. Tatsächlich lagen nach dem Wortlaut dieser Vorschrift alle Voraussetzungen für eine Auflösung des Bundestages vor. Trotzdem bestanden verfassungsrechtliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bundestagsauflösung. Denn der Wortlaut ist nur ein Kriterium der Auslegung von Rechtsnormen. Der Sinn und Zweck einer Norm kann zu einer gegensätzlichen Auslegung führen. Dies wäre hier geboten gewesen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 1983 in BVerfGE 62, 1 folgendes festgestellt:

… Dementsprechend kann es für sich allein auch keine Rechtfertigung für die Auflösung des Bundestages abgeben, daß alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien oder ihre Fraktionen sich in dem Willen zu Neuwahlen einig sind. … Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Weg des Art. 68 GG anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, daß er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. Dies ist ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG; es muß erfüllt sein, damit ein Verfahren nach Art. 68 GG im Einzelfall verfassungsmäßig ist.